Mittwoch, 25. September 2013

Wie backe ich einen guten ersten Satz – mit wenigen Zutaten?

Gastautor Brillenkauz hat einen tollen Beitrag zum ersten Satz geschrieben. Wie wir alle wissen, ist dieser sehr wichtig. Also viel Spaß beim lesen.

Wie backe ich einen guten ersten Satz – mit wenigen Zutaten?

Die großen, großen Größen der großen Literatur machen es uns großartig vor:
„Es war ein heller und kalter Tag im April, und die Uhren schlugen Dreizehn.“ – George Orwell: 1984
„Diese Geschichte ist die traurigste, die ich jemals gehört habe.“ —Ford Madox Ford: The Good Soldier
„Sie erschossen das weiße Mädchen zuerst.“ —Toni Morrison: Paradise
„Es war der Tag, an dem Großmutter explodierte.“ —Iain M. Banks, The Crow Road
Es gibt so viele leckere, schokotastisch geschriebene Buchanfänge, von so vielen Autoren, wie soll man da denn überhaupt noch mithalten?
Viele angehende Schriftsteller, und auch viele in junger Zeit veröffentlichte Autoren, schenken dem ersten Satz ihrer Geschichte eher wenig Bedeutung.

Was macht für euch einen tollen ersten Satz aus? Muss er schön geschrieben sein? Mit Süßigkeiten dekoriert? Stimmung erzeugen? Eine schmackhafte Kruste haben? Etwas so detailreich beschreiben, dass ihr sofort das Gefühl habt, es euch perfekt vorstellen zu können?
Für viele Autoren ist häufig der erste Satz derjenige, der die meiste Zeit in Anspruch nimmt. Für noch mehr Autoren ist er häufig sogar DER Grund, die schöne neue Idee am liebsten doch gar nicht erst weiter zu verfolgen, weil der erste Satz einfach nicht hinhauen will.
Das Problem: Wie der oberste Zuckerguss bei meinen Lieblingscupcakes braucht ein erster Satz etwas, auf dem er auch aufgetragen werden kann.
Ob ihr es glaubt oder nicht, es ist um vieles einfacher als ihr glaubt! 
Ich versuche euch in diesem Gastbeitrag eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie ihr eure erste Zeile suchen, finden und eventuell modifizieren könnt, um euch diese große Aufgabe möglichst kurz und effizient abzunehmen, euch dabei aber immer noch allen Raum der Welt für eure eigenen Ideen und Kreativität zu lassen, oder die erste Zeile in Zukunft noch einmal abzuändern.
Also, womit fangen wir an?
Naja, die Frage ist wohl eher: Wann?
Wie weit ist eure Story bereits geplant? Ist sie überhaupt geplant? So oder so, schreibt einfach, ohne Hintergedanken, ohne weitere Planung, ohne weiteres Bewerten euer erstes Kapitel zu einem Ende, dass euch als Einstieg in eure Geschichte gefällt. Einfach allen Teig, alle Schokoraspeln rein in den Topf, los! 

1. Schreibt den Einstieg eures Buches, ohne euch Gedanken über den ersten Satz zu machen.
Es ist dabei egal, ob ihr spannenden, ruhigen, actionreichen oder liebevollen Start dabei hinlegt. Wir werden das Gesamtstück ganz langsam, Schritt für Schritt, etwas modifizieren. Ähm. Glasieren. Dekorieren? Oh Mann, ich habe zu wenig Kaffee getrunken.
Jetzt benutzen wir eine wunderschöne Regel, die ihre Ursprünge im Screenwriting hat:
In late, out early.
Was bedeutet In late, out early? Letzten Endes heißt das nichts anderes, als eine Szene an einem späten, bereits ereignisreichen Punkt zu beginnen, und an dem frühstmöglichen Punkt wieder zu beenden.
Wie sieht das überhaupt aus?
Nehmen wir folgendes Beispiel.
Die Nacht war verregnet. Auf der Autobahn A1 lieferten sich stumme, müde Fahrer ein Wettrennen um den ersten Platz auf dem improvisierten Kopfkissen in der Mitte ihrer Lenkräder. Als Mike nach vorn griff, an seiner Freundin vorbei, um das Radio zu betätigen, riss ihn ein kreischendes Geräusch aus seinen Gedanken. Ein gigantischer Pickup, braun, alt, amerikanischen Ursprunges, baute sich im Rückspiegel des Autos auf und stürzte wie ein japanisches Urzeitmonster auf Mike und seine Festivalfreunde zu, und scheinbar gab es nicht das Geringste, was er auf die Schnelle tun konnte, außer hilflos zuzuschauen.
„Also, ich finde ja, wir sollten beim nächsten Mal länger bleiben.“, gab Justine auf dem Beifahrersitz wieder. Ihre Augen waren ebenfalls geschlossen.

IN LATE : Sagen wir mal, das erste große Ereignis ist das Auftauchen des fremden Wagens. Also kürzen wir ALLES bis dorthin.
Ein gigantischer Pickup, braun, alt, amerikanischen Ursprunges, baute sich im Rückspiegel des Autos auf und stürzte wie ein japanisches Urzeitmonster auf Mike und seine Festivalfreunde zu, und scheinbar gab es nicht das Geringste, was er auf die Schnelle tun konnte, außer hilflos zuzuschauen.
„Also, ich finde ja, wir sollten beim nächsten Mal länger bleiben.“, gab Justine auf dem Beifahrersitz wieder. Ihre Augen waren ebenfalls geschlossen.

OUT EARLY: Ich denke, der kleine Satz von Justine muss nicht mehr in der Szene stehen, um sie irgendwie zu untermalen. Was interessiert, ist das Ereignis mit dem Pickup.
Ein gigantischer Pickup, braun, alt, amerikanischen Ursprunges, baute sich im Rückspiegel des Autos auf und stürzte wie ein japanisches Urzeitmonster auf Mike und seine Festivalfreunde zu, und scheinbar gab es nicht das Geringste, was er auf die Schnelle tun konnte, außer hilflos zuzuschauen.
Vergleicht das Ganze jetzt einmal mit der ersten Version dieser Miniszene. Was hat mehr Dynamik, und warum?

2. In late, Out early. Alles andere verschwindet.
So, jetzt kommen wir langsam aber sicher in den interessanten Bereich! Lest euch noch einmal die berühmten Anfänge von oben durch. Viele von ihnen hören sich sehr verschieden an, haben aber häufig ähnliche oder gleiche Elemente.
Laut z.B. Thomas Maass, einem amerikanischen Literaturagenten, der stets auf der Jagd nach Bestsellern ist, zeichnet einen guten Anfang vor allen Dingen eines aus: Er wirft eine Frage auf, die der Leser beantwortet haben möchte. Im Prinzip ist das nichts anderes als ein Provozieren der menscheneigenen Neugierde.
Ich denke, man kann diese Arten von Fragen vor allem in der populären Bestseller-Literatur in grundsätzlich mehrere Systeme einordnen, die sich häufig sogar mehr oder weniger überschneiden:
Der „Was zur Hölle…?“ – Faktor.
Eine explodierende Großmutter? What the hell?
Der „Etwas Normales trifft auf etwas komplett Unnormales“ – Faktor
Ein kalter Abend, cool… Moment mal, die Uhr schlägt Dreizehn???
Der „Intensität“ – Faktor
Ein Startsatz, in dem es um etwas Großes geht, wie z.B etwas tiefgreifendes wie Liebe, Zorn, Leben oder Tod, oder der Klassiker: Sex, haut die meisten Leser bereits im ersten Lesen von den Socken. Stirbt oder lebt der Charakter? Wird der Charakter im nächsten Satz Sex haben? Wird er seinen ewig geplanten Heiratsantrag machen? Oder die essentiellste Frage überhaupt: Wird alles gut ausgehen?
Wie ihr Intensität einbaut, muss natürlich auch immer von eurem Inhalt abhängen. Garantiert findet ihr in eurer Geschichte ein Element, dass auf einer hohen Intensitätsebene agiert. 
Einige Beispiele für Intensität:
Er blutete jetzt seit über 3 Stunden ununterbrochen.
Unter normalen Umständen hätte er an so einem ungewöhnlichen Ort niemals daran gedacht, Sex zu haben.
Als ich Lucy ihren Heiratsantrag machen wollte, geschah etwas furchtbares.
All diese Sätze beinhalten eine Form von hoher Intensität. Obwohl ich mir die drei gerade eben ausgedacht habe, fallen mir jetzt schon einige Dinge ein, die danach kommen könnten, weil sie meine Fantasie mit einer FRAGE anregen, die meine Neugierde in fetten, leuchtenden großen Buchstaben in meiner assoziativen sensorischen Sehrinde geklebt hat.

3. Die Neugierde-Faktoren berücksichtigen.
Bearbeiten wir also noch einmal, unter diesen neuen kleinen Gesichtspunkten die Miniszene und schauen einfach mal experimentellerweise, welche Art von Faktor sich besonders gut dafür eignet.
Der „Was zur Hölle?“ Satz:
Mike war sich sicher, dass Godzilla in wenigen Sekunden ihn und seine Freunde zu Asphaltmatsche verarbeiten würde.
…funktioniert, aber in den nächsten Zeilen sollte schon klar werden, dass Mike mit Godzilla ein Auto meint.
Der „Normal/Unnormal“ Satz:
Der Regen untermalte alles mit einem stillen Rauschen, als der fremde Pickup mit 260km/h in dem Rückspiegel seines stehenden Autos auftauchte.
Jaaa, jetzt haben wir da doch schon etwas.
Der „Intensität“ Satz
Mike wusste, das er gleich mit einem Pickup Sex haben würde.
Öhm. Also… ähm. *hust* Ich glaube, das war nicht ganz der richtige Ansatz… ich meine… also technisch gesehen. Nein. Ich glaube nicht. Pfui.
Kommen wir zu einem weiteren, sehr wichtigen Punkt beim Überarbeitungsprozess: Eurer weiteren Geschichte. Stellt euch vor, ihr seht einen Satz, denkt, ihr wisst, was er zu bedeuten hat, und stellt dann am Ende des Buches fest, dass er etwas ganz anderes ausdrückt. Etwas, das man nur mit dem Wissen nach dem Lesen erkennen kann. Wäre das nicht ein toller „Aha!“- Effekt für eure Leser? Probiert es doch einfach mal.
Wenn ihr schreibt:
„Der Brief, der alles veränderte, kam an einem Mittwoch.“
und der Leser findet am Ende heraus, dass nicht der Brief, sondern der Wochentag derjenige war, der alles verändert hat, weil z.B ein Geburtstag ins Haus stand, den der Protagonist vergessen hat, dann habt ihr so eine Doppelbedeutung.
Was bringt einem das? Schlicht und ergreifend, es bleibt im Gedächtnis. Und wenn ihr euch an eine Geschichte erinnert, empfehlt ihr sie auch gerne weiter, stimmt‘s?

4. Eine besondere Bedeutung.
Ihr könnt die besondere Bedeutung auch schon früher im Buch erklären. So oder so, wenn ein Satz verwirrt und dann doch noch anders begriffen wird, dann hinterlässt das Spuren beim Leser.
Eine Bitte zum Schluss:
Diese kleinen Schritte und Denkanstöße zum Überarbeiten oder Erstellen eines Anfangssatzes solltet ihr immer auch an euren Stil, eure Charaktere und eure Geschichte, sowie eure Stimme anpassen. Einfach nur auf einen billigen Effekt aus zu sein wird sehr schnell vom Leser durchschaut und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack beim Denken.
Im schlimmsten Falle kann sich ein Leser sogar veräppelt von euch fühlen. Erst vor kurzem habe ich eine Geschichte etwa so anfangen sehen:
„Gleich würde er den besten Sex seines Lebens haben. Dann wachte er auf. Es war ein langweiliger Tag im November, und der Himmel war grau, und die Vögel zwitscherten…“
Seht ihr, wie da der Sex nur steht, um euch einfach danach wieder ins kalte Wasser zu schmeißen? Mit so einem Trick KANN man die Leute über den ersten Satz hinausbringen, aber ob man das auch wirklich MÖCHTE, ist natürlich eine gänzlich andere Frage.
Dasselbe gilt für Action:
„Die Klinge fuhr auf seinen Hals nieder, und Mike bildete sich bereits ein zu spüren, das seine Schlagader aufriss. Dann sagte der Friseur zu ihm: ‚Wollen sie wirklich den ganzen Bart rasiert haben?‘“
Mal ehrlich, da fühlt man sich doch ganz schön vergackeiert, oder?
Deshalb, eine kleine Bitte und ein letzter Punkt zum Merken:

5. Versprecht niemals etwas mit eurem ersten Satz, dass ihr bzw. eure Geschichte nicht einhalten kann!

In diesem Sinne, fröhliches Backen und einen wunderschönen Tag euch! 
Euer Brillenkauz

 
 
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